Hundert hellblaue Stühlchen

Weil sie während der Saison Karavostasis. Es ist, bevor sich die ersten und obendrüber ist sowieso Blau. Das hier arbeitet und von dieser Stimmung für keinen anderen Job der Welt ablassen mag. Wann es auf Folegandros am schönsten ist? „Jeden Morgen, wenn die Sonne gerade aufgeht“, sagt sie – „und ich mit meinem Setter-Rüden joggen gehe.“ Es ist, bevor die meisten Touristen aufstehen. Sie verteilen sich auf ein paar Hotels am unmittelbaren Altstadtrand von Chora, auf ein, zwei einfache Quartiere im historischen Zentrum und auf ein paar Neubauten etwas ausserhalb und unten am Hafen im dreieinhalb Kilometer entfernten Örtchen Frühstücksgäste auf die Stühlchen setzen, lange bevor jemand an den Stränden sein Badelaken ausbreitet. Es ist die Zeit, wenn sich die Kelche der Wiesenblumen am Wegesrand gerade erst öffnen. „Auf dieser Insel“, sagt Pateli, „muss man mögen, was man sieht. Denn mehr gibt es nicht. Die Insel ist ein Felsen im Meer. Einer mit ein paar aufeinander gestapelten Häusern an der Steilküste, ein paar weiteren einzeln in der Gegend. Und viel mehr ist hier nicht.“ Farben gibt es trotzdem. Folegandros ist je nach Jahreszeit hellgrün oder rotbraun, Chora ist weiss – und alles drumherum sind keine schlechten Aussichten. Und die Stühlchen gibt es übrigens auch in Rot, in Gelb, Braun und Weiss. Erstaunlich, wie viel länger sich jeder Tag hier schon nach kurzer Zeit anfühlt, wie viel Erholung hineinpasst: weil es nichts gibt, was man tun müsste – kein kulturelles Pflichtprogramm, nur diesen Alltag, all die vielen kleinen Beobachtungen, die Momentaufnahmen. Es gibt Bummeln, Schauen, Reden, Essen, Ausruhen. Es gibt Wandern. Und natürlich Baden und, wenn man mag, Braunwerden – oder Rotbrennen, wenn man die Sonne unterschätzt. Erstaunlich jedenfalls, wie schnell sich noch der unruhigste Geist auf das Lebenstempo dieser Insel einlässt – ganz ohne bewusstes Zutun.


Der schönste Platz auf Folegandros? Insel-Pope Panagiotis weiss die Antwort. Er muss sie wissen, denn der bald siebzigjährige Mann mit dem grauen Bart und den gütigen Augen, der mal Friseur war, ehe er den Himmel als Betätigungsfeld entdeckt hat, ist hier geboren. „Der schönste Platz ist nah bei Gott“, sagt er. Und wo jemand diese Nähe findet, das ist ganz individuell: „In meiner Kapelle in der Ortschaft Ano Mera zum Beispiel. Ich habe sie gerade erst zu Ehren der Heiligen Methodia errichtet. Eine von 95 Kirchen und Kapellen auf Folegandros.“ Und noch einen Lieblingsplatz hat er – denn zweitliebsten: „Am Strand von Ambeli – dort, wo die Schotterstrasse zu Ende ist, mitten in der Natur.“
Er hat dort ein Häuschen mit kaum mehr als einem Bett darin. Und einem Gärtchen drumherum. Dort geht Panagiotis mit seiner Frau schwimmen – und dort sitzen sie gerne bei nichts als Sternenbeleuchtung und lauschen der Musik, die der Wind über den Decks vorbeifahrender Kreuzfahrtschiffe mitgenommen hat und über dem Strand wieder fallen lässt. Chora mit all den Stühlchen ist dann weit weg. Ob sich etwas geändert hat seit seiner Kindheit auf Folegandros, das er als nachteilig empfindet? Er überlegt lange und lächelt milde: „Jetzt gibt es mehr Strassen. Da muss man vorsichtiger sein. Vor 60 Jahren waren es nur Pfade, und wir kannten jeden Stein.“


Und wahrscheinlich waren die vielen Katzen früher scheuer. Heute scheinen sie ihrem Nachwuchs schon in den ersten Lebenswochen beizubringen, wie man sich besonders fotogen auf einem freien Stühlchen rekelt, auf dem Pflaster unter den Bäumchen mit den Lichterketten oder auf einem schneeweissen Mauervorsprung. Selbst die jüngsten Kätzchen scheinen bereits gezielt mit den Fremden zu flirten, sie posieren für deren Erinnerungsfotos – und miauen ihnen nach jedem Shooting den Hinweis entgegen, dass nun eine Belohnung vom Café-Tisch fällig sein müsste. Als Trost für den kalten Winter, wenn fast keiner da ist und nichts abfällt. Manche bleiben hart, die meisten können dem Blick nicht widerstehen, nicht hier, nicht jetzt…
Am Ortsrand von Chora hat kürzlich jemand eine moderne Lounge eröffnet – chillig, irgendwie grossstädtisch, mit hellen Allwetter-Sofas, über denen bassbetonte Musik aus versteckten Boxen plumpst. Er sitzt dort ganz alleine unterm weissen Sonnensegel und fummelt gedankenverloren an seinem Smartphone herum. All die anderen hocken lieber ein paar Schritte weiter auf alten Stühlchen in Hellgrün und Hellblau – und freuen sich, wenn die auf unebenen Pflaster ein bisschen vor sich hin wackeln. Das passt besser hierher, besser zu diesem schönen Feeling des In-den-Tag-Hineinlebens. Es ist das Lebensgefühl von Folegandros.

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