Die Insel der Überraschungen

Der Höhenflug. Die Produktion floriert. Die Thunfischschwärme sind so riesig wie die einzelnen Exemplare selbst. 1864 werden 14’020 Thunfische gefangen, die meisten mehrere Hundert Kilo schwer. Noch in den 60er Jahren geht ein Exempar mit 647 kg ins Netz. Vincenzo Florio und seine Familie schwelgen im Luxus, verkehren in den Salons von ganz Europa und bauen sich nicht nur in Palermo Prachtspaläste. Auch die neogotische Villa Florio am Hafen von Favignana gehört dazu, sie war die eher bescheidene Sommerresidenz. Als begeisterter Autorennfahrer ruft Vincenzo 1906 die Targa Florio ins Leben, das Langstreckenrennen durch Sizilien wird auch heute noch durchgeführt. Sohn Ignazio Junior schwelgt weiter im Luxus, das Bildnis seiner Frau Franca wird zum Sinnbild der verschwenderischen Belle Epoque. Das Floris-Imperium wächst weiter, eine Keramikfabik, ein Stahlwerk, eine weitere Werft und eine Zeitung kommen dazu. Dank den Floris wird Sizilien zur Trenddesitination, die Schönen und Reichen pendeln zwischen Palermo und Taormina hin und her, bei den Floris gehen der russische Zar, der deutsche Kaiser und Startenor Caruso ein und aus.

Der Abstieg. Vom Höhepunkt zum Abstieg ist es nur ein kleiner Weg, verursacht durch viele Faktoren. Der Thunfischfang geht zurück, der 1. Weltkrieg legt den Handel lahm, Arbeiterstreiks, Steuern und leere Bankkassen lassen die Einkünfte dramatisch sinken. Doch die Floris geniessen weiter, als sei nichts geschehen. Ignazio schenkt seiner Frau Schmuck im Wert von 6 Millionen Lire, um sich für seine Seitensprünge zu entschuldigen – sein Grossvater hatte lediglich die Hälfte für den Kauf der ganzen Inselgruppe investiert. Noch 1922 belegen die Florios im Grand Hotel in Viareggio ganze 11 Zimmer, mit sechs Bediensteten und Butler im Gefolge. Um seine Schulden zu bezahlen, veräussert Ignazio Floris nach und nach sein gesamtes Imperium. Letzter Verkauf ist die Tonnara von Favignana, die 1937 an die Genueser Familie Parodi geht.

Die Fülle der Eindrücke. Drei verschiedene Führer vermitteln uns diese geballte Ladung an Geschichte, Soap Opera und Fügungen des Schicksals. Als letzter Führer erklärt uns Zio (Onkel) Beppe die Technik und Abwicklung der Mattanza, begleitet von einer Sangeseinlage mit den schwermütigen, rythmischen Gesängen beim Einholen der Netze. Er hat die typische Karriere eines Tonnaroti erlebt, mit 14 Jahren begann er als Hilfsjunge in der Fabrik, dann durfte er aufs Meer zur Mattanza. Bis zur Pensionierung gehörte sein Leben der Tonnara, die für ihn sein ein und alles war – und dank dem neuen Museum noch immer ist. 18 seiner Kollegen und Kolleginnen lernen wir in einer Kunstinstallation in der Torino-Halle kennen. Im dunklen Saal schweben auf durchsichtigen Projektionsflächen die Protagonisten der Fabrik und erzählen von ihrem Arbeitsleben, von der Dosenfüllerin bis hin zum letzten Rais. Unseren Kindern gefällt ein blondgelockter Hüne, der seine Narben von den Flossenschlägen der Thunfische im Todeskampf zeigt. Angelo Ventrone ist sein Name und auf Favignana wird er fast wie ein Heiliger verehrt. Er ist bekannt dafür, dass er am Ende der Mattanza im blutroten Wasser badete. Sein Bild, schlafend auf einem Haufen Netze, ging als Schwarzweissfotografie von Salgado fast um die ganze Welt.

Inselhopping. Leinen los und einmal rund um Favignana. Unsere Kinder halten Ausschau nach Thunfischen und starren in den Ankerbuchten auf den Grund, um eventuell Amphoren und römische Helme zu entdecken. Das Tonnara-Museum und die ärcheologische Ausstellung haben ihre Phantasie angeregt, sie sehen die Insel und das Meer jetzt mit ganz anderen Augen. Wir haben vor einem der vielen Steinbrüchen geankert, wo Tuffstein abgebaut wurde. Neben dem Tonno war der Tufo das zweitwichtigste Exportgut der Insel. Der eher weiche und poröse Stein vulkanischen Ursprungs lässt sich gut bearbeiten und ist ein leichter und gut isolierender Baustoff. Grosse, zum Teil quadratisch angelegte Schluchten und Höhlensysteme zeugen von der einst emsigen Aktivität, heute ist nur noch eine einziger kleiner Steinbruch aktiv. Die Tagesabbaustellen im Inselinnern wurden von den findigen Insulanern in Gärten umfunktioniert. In den windgeschützen Steingruben können Obstbäume und Gemüse perfekt gedeihen.

Unser nächster Inselstopp Levanzo ist die Ruhe selbst. Wir möchten die „Grotta dell Genovese“ mit ihren Steinzeitmalereien besichtigen, doch im „Kommunikationszentrum“ (alias Dorfristorante) teilt man uns mit, dass Höhle geschlossen ist und zeigt uns bereitwillig Fotos. Bei meinem letzten Besuch war ich bäuchlings in die Höhle gekrochen und konnte die Felsmalereien live bewundern. Die Ureinwohner haben vor 9200 Jahren v. Chr. Alltagsszenen der Jagd und des Fischfangs an den Wände verewigt. Aber erst jetzt fällt mir auf, dass auf den Zeichnungen auch die typische Silhoutte eines Thunfisches zu sehen ist. Der Fisch steht also schon ziemlich lange auf dem Speiseplan der Insulaner…

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